Startseite » Themen »

Sanatorium im Darmstädter Jugendstil mit original erhaltenen Linoleumböden

Themen
Sanatorium im Darmstädter Jugendstil mit original erhaltenen Linoleumböden

Sanatorium im Darmstädter Jugendstil mit original erhaltenen Linoleumböden
Auf dem Zauberberg im Harz

Es gibt nur wenige Orte, an denen die Zeit scheinbar spurlos vorüber gegangen ist. In Braunlage befindet sich eines dieser seltenen Beispiele: das sogenannte Mittelhaus des Sanatoriums Dr. Barner, ein nahezu komplett erhaltenes Gesamtkunstwerk aus der Epoche des Jugendstils. Als Rekonvaleszentenheim der gehobenen Stände war dieses Sanatorium einst allerdings eher ein Grandhotel, zusätzlich ausgestattet mit medizinischen Behandlungsräumen. Und wohl auch durchdrungen von der für das Fin de siècle so typischen morbidezza, die unwillkürlich an den berühmten Zauberberg denken lässt. Und in der Tat: Das Sanatorium zu Braunlage war ein Refugium für die Müden, die Abgespannten, die seelisch aus der Bahn Geworfenen. Aber auch für betuchte Sommerfrischler, die die Ruhe in der herrlichen Natur und die heilsame reine Harzluft genießen wollten. Selbst heute lässt sich hier noch der Glanz jener Lebensform erahnen, der Thomas Mann mit seinem Roman ein einzigartiges literarisches Denkmal gesetzt hat.

Begonnen hat die Geschichte des Sanatoriums mit dem Kauf von zwei benachbarten Villen im historistischen Stil, in denen der Sanitätsrat Dr. Friedrich Barner im Jahr 1900 seine Privatklinik eröffnete. Einzigartig aber ist das zwischen 1912 und 1914 entstandene repräsentative Mittelhaus als eines der bedeutendsten Zeugnisse des späten deutschen Jugendstils. Als Architekt zeichnet Albin Müller verantwortlich, der spätere Leiter der weltbekannten (und im 2. Weltkrieg weitgehend zerstörten) Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt. In Braunlage freilich kommt eine Besonderheit hinzu: Das Gebäude samt Einrichtung ist bis heute original und detailgenau erhalten. Zu verdanken ist das der Familie Barner, in deren Besitz sich das Sanatorium nach wie vor befindet, nunmehr in der dritten und vierten Generation geführt von Dr. Klaus Barner und Johann Barner.

Entgegen allen Fährnissen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten hat die Familie stets an der Überzeugung festgehalten, das Gebäude und seine Einrichtung, soweit irgend möglich, unangetastet zu lassen, es allenfalls behutsam den Erfordernissen moderner Behandlungsmethoden und unumgänglicher Feuerversicherungspolicen anzupassen. Nur so sind Ausstattung und Mobiliar fast vollständig erhalten und bis heute funktionstüchtig geblieben: Wärmeschränke, Spiegel, Tische, Stühle, Leuchten, Waschtische und teilweise auch die medizinischen Geräte. Die Hingabe, mit der sich die Familie dem Haus und seiner Ausstattung unvermindert widmet, bewahrt somit ein in Deutschland einmaliges Erbe, das untrennbar mit Albin Müller verknüpft ist.

1903 kommt der stressgeplagte, unter Schlaflosigkeit und Magenbeschwerden leidende Architekt und Designer erstmals als Patient ins Sanatorium Barner. Albin Müller befreundet sich rasch mit dem damaligen Leiter Dr. Friedrich Barner, und ihm muss er während einer seiner zahlreichen Kuraufenthalte wohl gestanden haben, dass er die Inneneinrichtung des Hauses garstig und deshalb der Genesung kaum zuträglich empfand. Als der aufgeschlossene, kunstliebende Sanitätsrat einen ambitionierten Erweiterungsbau seines florierenden Sanatoriums plant, beauftragt er nach kleineren Vorarbeiten Albin Müller mit der Um- und Neugestaltung.

Zwischen 1912 und 1914 kann Müller unter Einbezug der vorhandenen Bausubstanz und trotz eines komplizierten Geländeverlaufs sein persönliches Jugendstil-Wunschbild im Mittelhaus des Sanatoriums verwirklichen und die dabei eingesetzte Formensprache zu einem Gesamtkunstwerk verdichten: Von den Linoleumböden über die eigens angefertigten Möbel, die Holz-Einbauten, Treppenhäuser, Wandbespannungen, Tapeten, Leuchten bis hin zum Geschirr und Besteck hat Albin Müller fast die gesamte Einrichtung und Außengestaltung stilsicher durchkomponiert. Noch heute wirkt alles wie aus einem Guss.

Dabei kümmert er sich wirklich um jedes Detail, bis hin zu den Musterungen und der Dichte der angebrachten Vorhänge. Sein Ehrgeiz ist es, ein Gebäude vom ersten Mauerstein bis zu den Gardinen zu durchdenken, wie er einmal schreibt. Jeder Schritt wird in unzähligen Entwürfen vorbereitet und in Briefen zwischen Albin Müller und Friedrich Barner diskutiert, manchmal in durchaus angespanntem Ton. Dem Architekten missfällt, dass der Bauherr an der Ausstattung mit edelsten Materialien partout nicht sparen will – das unterläuft das eher puristische Konzept Müllers und führt zudem zu Stilbrüchen.

Zu den Reibungspunkten, die der bis heute erhaltene Briefwechsel bezeugt, gehört wohl auch die zentrale Diele, die den räumlichen Mittelpunkt des Sanatoriums bildet. Ihre exquisite Einrichtung – die warme Farbe der raumhohen Kirschholzvertäfelung spiegelt sich im zweifarbigen Rosso Verona des Fußbodens – beruht auf den Entwürfen eines anderen herausragenden Designers jener Epoche: Peter Behrens. Dass die Einrichtung nach Braunlage gelangt, ist einem beherzten Glücksgriff von Friedrich Barner zu verdanken: Auf der Weltausstellung in Brüssel 1910 besichtigte er auch den Deutschen Presseraum, erwarb kurzerhand die komplette Ausstattung und ließ sie in seiner Diele installieren.

Das Stilempfinden des Bauherren lässt sich teilweise im Inneren des Sanatoriums noch ablesen. In den repräsentativen Räumlichkeiten – Dielen, Wandelhallen, drei Speisesäle, Musiksaal, Lese- und Rauchzimmer, ein Damenzimmer – entfaltet sich der ganze Reichtum großbürgerlicher Ausstattungskultur: Mooreichenparkett, ausgesuchte Natursteine, teils raumhohe Vertäfelungen, ornamentierte Tapeten, reicher Deckenstuck und kostbare Glaslüster. Doch jeder Raum besticht durch eine spezifische Geometrie, durch eine spezielle Materialauswahl und eigenen Farbklang. Und hier, in der Raumkunst, zeigt Albin Müller seine wahre Meisterschaft, denn es gelingt ihm immer wieder, seine Ideen von der eher zweckmäßigen Einrichtung des Sanatoriums einzubringen: Große hohe Fenster, die Licht und Luft in das Gebäude lassen, die kühle, fast schon klassizistische Formensprache der Fassade, nahezu quadratische Grundrisse der Räume, von außen ein eher sachlicher Eindruck.

Albin Müllers Vorstellungen prägen das Mittelhaus, das nicht nur die repräsentativen Räumlichkeiten beherbergt, sondern auch die Wohnräume des jeweiligen Sanatoriumsleiters, dazu Patientenzimmer, Behandlungs- und Untersuchungsräume sowie einen Herrenruheraum. Der auf den ersten Blick verwirrenden Raumfolge im Gebäude liegt die Idee zugrunde, die beiden schon auf dem Grundstück bestehenden Villen durch einen zentralen Neubau mit einem rückwärtigen Bauteil zu verklammern. Die Aufgabe löst Albin Müller mit Verbindungs- und Wandelgängen, mit Treppen, Dielen, Vorhallen und Wintergärten – allerdings nie auf direktem Wege. An den Gebäuden führte er zusätzliche Gänge entlang oder schaltete ein Foyer dazwischen. Dahinter verliefen einst noch Verbindungswege, durch die Bedienstete und das Pflegepersonal eilten – in der Blütezeit des Sanatoriums etwa Hundert an der Zahl -, ohne die Patienten und Gäste zu stören.

Nur durch diese Verschachtelung war es dem Architekten möglich, Grandhotel-Atmosphäre und medizinischen Betrieb, gediegen-bürgerliches Stilempfinden und kühle Sachlichkeit miteinander zu vereinen. Wie modern er bei alledem gedacht hat, zeigt die Ausstattung des Mittelhauses mit Elektrizität und fließendem Wasser in allen Zimmern. Noch in einem weiteren Detail zeigt sich der zukunftsgewandte Pragmatismus Albin Müllers – und auch das macht den original erhaltenen Jugendstilbau in Braunlage so einzigartig: Er stattete das Sanatorium fast durchgehend mit Linoleumböden und Linoleumtapeten, sogenannten Linkrusta-Tapeten, aus. Auch sie sind, einmalig in Deutschland, bis auf den heutigen Tag weitgehend erhalten geblieben.

Mit Böden aus Linoleum folgt Albin Müller dem Gebot der Zeit: Hygienevorstellungen prägten die medizinischen Ansichten jener Epoche maßgeblich. Für das Sanatorium erwiesen sich Linoleumböden als geradezu ideal, denn sie waren vergleichsweise einfach zu reinigen, rutschfest, dabei relativ weich und deshalb angenehm zu begehen, außerdem sehr robust und langlebig dazu. Auch die Linkrusta-Tapeten hatten trotz ihrer Farbigkeit und Ornamentierung einen unschätzbaren Vorzug in Sachen Hygiene: Sie konnten abgewaschen werden.

Dass trotz der vielen praktischen Vorzüge die Ästhetik nicht zu kurz kam, ist der Erfindung des sogenannten Inlaid-Linoleums um die Jahrhundertwende zu verdanken. Mit diesem Verfahren konnten farbige und ornamentale Muster abriebfest in den Linoleumboden eingebracht werden. Für Braunlage wurden sie selbstverständlich nach den Entwürfen des Architekten gefertigt – allein zwölf für die Böden und drei für die Linkrusta-Tapeten -, und noch heute beeindrucken sie den Betrachter durch mehrfarbige, kontrastreiche Muster aus geometrischen und organischen Formen.

Dass Albin Müller auch die Linoleumböden selbst konzipiert, ist kein Zufall. Wie Peter Behrens oder Albert Gessner pflegt er generell eine enge Zusammenarbeit mit Industrie und Handwerk, wenn es um die Gestaltung eigener Entwürfe in industriegerechten Formen geht. Zu Recht gelten diese drei frühen Designer als Pioniere der zeitgemäßen Produktgestaltung. Im Falle des Linoleums ist eine jahrelange Zusammenarbeit Albin Müllers mit den Anker-Linoleumwerken in Delmenhorst bezeugt, dem Zentrum der Linoleum-Produktion in Deutschland. Anker geht später in den Deutschen Linoleumwerken auf, die unter dem Kürzel DLW weltberühmt werden und heute unter dem Namen Armstrong DLW firmieren.

Albin Müller gehört zu jener Generation von Architekten, Designern und Künstlern, die Anfang des 20. Jahrhunderts dem 1863 eher zufällig erfundenen Linoleum zu anspruchsvollen Dessins verhelfen – gemeinsam mit Lucian Bernhard, Hans Christiansen, Carl Eeg, Josef Hoffmann, Bruno Paul, Richard Riemerschmid, Henry van de Velde und, allen voran, Peter Behrens. Die Ästhetik des künstlerisch gestalteten Linoleums wird zu einem bedeutsamen Bestandteil der zeitgenössischen Architektur. Besonders die Star-Architekten der 20er Jahre – wie Bruno Taut, Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius – nutzen Linoleum intensiv als innenarchitektonisches Gestaltungsmittel.

Im Sanatorium Barner liegen noch heute originale Inlaid-Linoleumböden auf knapp 1.300 m2 in farbigen, ornamentalen Mustern. In ihrem vergleichsweise guten Erhaltungszustand sind sie von einzigartiger Seltenheit und zugleich ein Beweis für die Langlebigkeit von Linoleum. Dennoch grenzt es an ein Wunder, dass trotz des stets laufenden Sanatoriumbetriebs, trotz der Änderungen des Stilempfindens über die Jahrzehnte hinweg und der natürlichen Materialermüdung die originalen Inlaid-Linoleumböden 90 Jahre überdauert haben. Der Hauptgrund dafür ist der überaus vorsichtige Umgang mit dem Material durch die verschiedenen Generationen der Familie Barner. Nur in Ausnahmefällen wurden in der Vergangenheit Linoleumböden ausgewechselt, lieber flickte man die schadhaften Stellen mit den auf dem Dachboden des Hauses deponierten Resten des originalen Linoleums. Doch diese gehen allmählich zur Neige und vergleichbares Linoleum wird heute nicht mehr produziert.

Die natürliche Abnutzung durch den ständigen Gebrauch sowie materialbedingte Alterserscheinungen führten zudem im Laufe der Zeit zu Schäden – Risse, Fehlstellen und Beeinträchtigungen durch Pflegemittel -, die jetzt behoben werden sollen. Gemeinsam mit Fachleuten von Armstrong DLW sind zunächst die Schäden von einer Konservatorin der Fachhochschule Hildesheim katalogisiert worden. Derzeit wird ein Konzept zur Konservierung erarbeitet, damit der wertvolle Schatz dieses Zauberbergs im Harz auch künftigen Generationen erhalten bleibt.

Wer mehr erfahren will über die Schätze des Hauses Barner, über den heutigen Sanatoriumsbetrieb oder weitere Nutzungsmöglichkeiten dieses Jugendstiljuwels, klicke im Internet die Seite www.sanatorium-barner.de an.

arcguide Sonderausgabe 2023
Projekte
arcguide Partner
Architektenprofile
 


Sie möchten auch Ihr Büro präsentieren und Ihre neuesten Projekte vorstellen? Zum Antragsformular »


Sie haben bereits ein Büroprofil auf arcguide.de und möchten Ihre neuesten Projekte vorstellen? Zum Projektformular »

Ausschreibungen
Konradin Architektur
Titelbild db deutsche bauzeitung 5
Ausgabe
5.2024 kaufen
EINZELHEFT
ABO

 


Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de